"...Zweck und Aufgabe des Vereins ist die Förderung von wissenschaftlichen, künstlerischen und/ oder erzählenden Arbeiten zur Freiraum- und Landschaftsplanung, die einen Beitrag zum Verständnis des Kultur- bzw. Naturgeschichte leisten.
Der Satzungszweck wird insbesondere verwirklicht durch:
- die Veröffentlichung von Monographien oder Aufsätzen in "Neubrandenburger Skizzen"
- die Durchführung von Kolloquien und Seminaren zum wissenschaftlichen Erfahrungsaustausch und zur Fortbildung
- die fachliche und sachliche Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses und die Beratung fachlich Interessierter
- die Unterstützung, Förderung und Durchführung von Forschungsvorhaben"
(Auszug aus der Satzung des Vereins: § 2; Gemeinnützigkeit, Vereinszweck)

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Anmerkungen zu den Neubrandenburger Skizzen (von Helmut Lührs)

Mit den Neubrandenburger landeskundigen Skizzen veröffentlichen wir in unregelmässiger Folge Beiträge zur Freiraum- und Landschaftsplanung, die dem Prinzip des `anschauenden Sehens` verpflichtet sind. Arbeiten von J. Berger, Alain, J. Giono, K.H. Hülbusch, R. Tüxen, C. Ginzburg stellen ´das Sehen` aus ganz unterschiedlichen Perspektiven, Schulen und Disziplinen heraus in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Diese Arbeiten bilden einen konzeptionellen Rahmen, Vor- und Nachgedachtes, Bezugspunkte und Gedankenstützen, die für die hier veröffentlichten Beiträge maßgeblich sind. Sehen beschreibt eine Fähigkeit des Geistes, eine Qualität im Denken. Sehr sorgfältig lernen wir zählen und wie J. Giono sagt 

"in einem weiteren Wortsinn rechnen. Aber niemand lernt sehen (oder hören). Wenn jemand nicht richtig zählen kann, sagt man ihm jegliche Übel voraus (die ihn alsbald treffen). Wenn er dagegen nicht richtig sieht (oder nicht richtig hört), sagt man ihm nichts voraus, obwohl sehr viel größeres Unglück sein unmittelbares Los ist. Und zwar insbesondere Langeweile und mit Gewißheit, was man mit seinem wahren Namen nennen kann und was landläufig ist: Schwachsinn." (GIONO 1989:13). 
Das Sehen in diesem Sinn umschreibt Fertigkeiten, über die wir eben nicht so ohne weiteres selbstverständlich verfügen können. Es will gelehrt und gelernt sein. Schon J.J. Rousseau weist in den Botanischen Lehrbriefen daraufhin:
"... dieses Sehen-Können ist in unseren Erziehungsmethoden in Vergessenheit geraten. Die Anschauung ist das Wichtigste. Immer wieder betone ich: Lehrt eure Kinder sich nicht mit leeren Worten zufrieden zu geben, sondern lehrt sie das erworbene Wissen selber zu überprüfen!" (ebenda 1979:53).
Die sorgsame Beobachtung der Welt, so wie sie ist (BERGER / KELLNER), die anschauende Beobachtung, das in einen Zusammenhang setzende Sehen (BERGER J: ) sind Metaphern; die das Sehen als eine Art zu denken umreißen; sprich, Dinge nicht (nur) für sich zu betrachten, sondern in ihren Bedeutungen, Ursachen und Wirkungen zu verstehen. Nach Weber M. sind damit Konzepte verbunden, die soziologisch (MUCHOW/MUCHOW), ikonographisch / ikonologisch (PANOWSKY), indizienwissenschaftlich (GINZBURG), hermeneutisch (HARD), pragmatisch (PEIERCE), planend (HÜLBUSCH I.M.) bedacht wurden und werden.

Aus der Anschauung lernen
Das Konzept der anschauenden Beobachtung greift entsprechend auf eine reiche, ausnehmend erfolgreiche wie zugleich (akademisch) höchst umstrittene Tradition zurück.

"... ich lache über alle bisher für natürlich ausgeschriene Methoden, und ich nehme es auf mich zu beweisen, wenn man es verlangt, daß keine, auch nicht eine Klasse, in jedem Systeme natürlich sei." LINNÈ C.v. 1991:297).
Was hier aufscheint, ist nicht nur der bekannte Streit zwischen Haller und Linné, es ist ein bis heute fortwährender Streit um die orthodoxe, schematische, dogmatische Auslegung der Welt gegen eine verstehende, erzählende, sehende, Sinn erschließende und sinnliche Beschreibung, Interpretation, Deutung der Wirklichkeit, so wie sie ist. Weber hat diesen Unterschied in der Gegenüberstellung der empirischen Wissenschaften (Soziologie) und der dogmatischen Wissenschaften (Jurisprudenz, Logik, Ethik, Ästhetik) pointiert zum Ausdruck gebracht, wobei wir natürlich wissen, daß die Empirik vor Dogmatik so wenig geschützt ist (und schützt) wie die Dogmatik sich aufs vortrefflichste der Empirik zu bedienen weiß. Das Sehen ist voraussetzungslos nicht zu haben. Es bedarf der Erfahrung, konkreter, sinnlicher Erfahrung und es bedarf eines Fundamentes, das immer aus einem System konstruiert ist, in dem sich diese Erfahrung aufheben, aufbewahren, ein- und zuordnen läßt (BOURDIEU P.). Ganz gleich wie (wenig) explizit ein solches System errichtet wird, das Sehen ist darauf existentiell angewiesen, um systematisch, prüfbar, nachvollziehbar zu einem tragfähigen, plausiblen Ergebnis (mehr läßt sich in weichen Disziplin ohnehin nicht erreichen) zu kommen. Der Vegetationskunde stellt dieses System die Pflanzensoziologie zur Seite (SCHMIDTHÜSEN), der Freiraumplanung die Typologie der Bau-, Siedlung- und Freiraumstruktur (BÖSE H.), der Landschaftsplanung die Landnutzung und Landnutzungsgeschichte (HÜLBUSCH K.H.). Anschauendes Sehen ist nicht ängstlich auf disziplinäre Grenzen und Grenzziehungen bedacht. So schreibt Goethe über Linné:
"Dieser Tage habe ich wieder Linné gelesen und bin über diesen ausserordentlichen Mann erschrocken. Ich habe unendlich viel von ihm gelernt, nur nicht Botanik." (ebenda S. 295)
Linnés Schüler J. Beckmann nutzt das Vorbild der binären Nomenklatur um eine systematische Ordnung der Handwerke vorzulegen (ebenda S. 301). Analog wurde die pflanzensoziologische Methode des (Tabellen)vergleichs nach Braun Blanquet fruchtbar in siedlungskundliche, geographische, bautypologische Fragestellungen übersetzt.

Ein Beispiel aus der Vegetationskunde
Linné war ein Erzähler, ein Dichter, einer, den Land und Leute interessieren, was sich von der heutigen Floristik und in ihrem Gefolge der Pflanzensoziologie nur mehr in Ausnahmefällen sagen läßt. Dieser Verlust kundiger Anteile in der akademischen Arbeit wird vermeintlich durch (pseudo)wissenschaftliche Härte kompensiert. Es gibt einen in seiner Schizophrenie unübertroffenen Aufsatz von R. Tüxen und H Ellenberg aus dem Jahr 1937 - Der systematische und der ökologische Gruppenwert - , der diese beiden Seiten der Annäherung / Gegenstandsbeschreibung - gleichsam exemplarisch in einer Arbeit - spiegelt. Da wird einerseits ein ganzes Feuerwerk an Formeln, Berechnungen, mathematischen Ableitungen zum Besten gegeben, das beeindruckt, aber nichts erklärt, andererseits finden sich weite Passagen, die jenseits der ganzen Rechnerei sorgfältig die Überlegung, das Prinzip und die dazugehörigen Regeln wiedergeben und zugänglich machen. Während Ellenberg weiter bei der Rechnerei geblieben ist, um u.a. mit seinen Zeigerwertzahlen jede verständige Betrachtung und Beschreibung der Vegetation zu zerrütten (was ihm im übrigen nicht nur in der Landespflege viel Ehre und Lob eingetragen hat), hat Tüxen den anderen, vegetationskundlichen Weg verfolgt. Auffallend dürftig fällt seine Rezeption in der Landespflege, Landschaftsökologie / und den verwandten Disziplinen aus. Die Arbeiten der Kasseler Schule stellen dagegen das Indizienparadigma der Vegetationskunde explizit in den Mittelpunkt der Landschafts- und Freiraumplanung. Dieser Meilenstein im Verständnis der professionellen Arbeit wurde von der Wissenschaftsgemeinde, wie man sich leicht vorstellen kann, mit gemischten Gefühlen aufgenommen. Während die einen diesen Beitrag am liebsten tot schweigen würden, beharren die anderen, Praxologen, Methodenpriester und Wissenschaftsdogmatiker (selbstredend) darauf, die Welt auch weiterhin mit unangemessenen Mitteln für unangemessene Ziele zu durchpflügen. Sie überziehen das Land mit ökologischen Risikoanalysen, Biotopwertkartierungen, Ablaßhändeln im Rahmen von sog. Eingriffs-/ Ausgleichsuntersuchungen (und vielem mehr) - wogegen sich das Gefeilsche eines orientalischen Marktes als ein für alle Beteiligten höchst transparentes Unternehmen ausweist. Panowsky hat gegen diese Art von wissenschaftlicher Praxismimikrie die Gelassenheit des Elfenbeinturmes hochgehalten und wir halten das für einen klugen Vorschlag, den Auftrag der Hochschulen ernst zunehmen, indem sie der eilfertigen Verwurstung und Verwertung ihrer Arbeit widerstehen. Freilich verfolgen die Neubrandenburger Skizzen keine wissenschaftliche Ambition - das wäre im Sinne des Elfenbeinturms zu hoch und im Sinne der wissenschaftlichen Normalpraxis zu kurz gegriffen. 

Neubrandenburger Skizzen
Der Charakter einer Skizze ist voreiliger Natur. Sie will auf etwas hinaus, was ihr noch nicht zu handen ist. So legt sie das Gewicht ins Prinzip, in die Abbildung des Wesentlichen (sei dies nun bei einer Zeichnung, bei einem Text oder bei der Notiz eines Gedankens). Vollständigkeit spielt hier sowenig eine Rolle wie Detailgenauigkeit. Das erweist sich als Vorteil und üppige Beweislast zugleich, weil die Aufmerksamkeit nicht dem Material an sich, sondern den sinnleitenden Gedanken/Überlegungen dazu verpflichtet ist. Die Skizze enthält den Versuch, die mitgebrachte Erfahrung, gleichsam das ad hoc verfügbare Wissen auf dem Punkt zubringen, um von diesem Punkt aus, der Neugier, dem Zweifel, der Intuition einen relativ gesicherten Platz für die Arbeit zu gewähren. So ist die Skizze darauf angelegt, Grenzen zu überschreiten, in dem sie uns hilft, den Blick auf das Unbekannte im bekannten Wissen zu schärfen, Vor- und Nachgedachtes für neue Einsichten aufzubewahren und dem Denken eine Richtung zu weisen, damit es sachlich und das heißt immer den Dingen gemäß ausfallen kann.
Im wesentlichen veröffentlichen wir mit den Neubrandenburger Skizzen studentische Beiträge, die im Lehr-/Lernzusammenhang der Freiraumplanung/ Landschaftsplanung an der Fachhochschule Neubrandenburg entstanden sind. In einem vergleichbaren Zusammenhang steht die Schriftenreihe der Cooperative Landschaft an der BOKU in Wien und die Tradition der Notizbücher der Kasseler Schule, die der studentischen Arbeit, dem forschenden Lehren und Lernen einen Ort, ein Stück Heimat gewähren, gegen die Verschwiegenheit der gängigen Ausbildungsroutinen (nicht öffentliche Prüfungen, in Tresoren verschlossene Diplomarbeiten, nur Insidern zugängliche Projekt- und Studienarbeiten), für eine offene, offensive und öffentliche Debatte, die der Privatisierung des Wissens widersteht. 

Literatur
GIONO 1989: Die Terrassen der Insel Elba. Frankfurt am Main.
LINNE Carl von 1991: Lappländische Reise und andere Schriften. Leipzig.
ROUSSEAU Jean-Jacques 1979:  Botanische Lehrbriefe. Frankfurt am Main.

ALAIN 1985: Spielregeln der Kunst. Frankfurt am Main.
BERGER J. 1990: Das Sichtbare und Verborgene. München, Wien.
BERGER J. 1991: Velazquez Äsop. Erzählungen zur spanischen Malerei. Frankfurt a. Main.
BERGER P. L., KELLNER H. 1984: Für eine neue Soziologie. Ein Essay über Methode und Profession. Frankfurt a. M.
BÖSE H. 1981: Die Aneignung von städtischen Freiräumen. Arbeitsbericht des FB 13 Stadtplanung und Landschaftsplanung. GhK. Heft 22. Kassel.
BÖSE-VETTER H. 1989: Hof und Haus. Zum Beispiel Worpswede. In: Notizbuch 25 der Kasseler Schule. Hg.: AG Freiraum und Vegetation. Kassel 1991.
BOURDIEU P. 1974: Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt am Main.
GINZBURG C. 1988: Spurensicherungen, über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis. München.
HARD G. 1995: Spuren und Spurenleser. Zur Theorie und Ästhetik des Spurenlesens in der Vegetation und anderswo. Osnabrücker Studien zur Geographie Bd. 16. Osnabrück.
HÜLBUSCH I. M. 1978: Innenhaus und Außenhaus. Umbauter und sozialer Raum. Schriftenreihe der Organisationseinheit Architektur - Stadtplanung - Landschaftsplanung. Gh Kassel.
HÜLBUSCH I. M. 1990: Die Angst vor dem Garten der Anderen. In: Notizbuch 47 der Kasseler Schule. Hg.: AG Freiraum und Vegetation. Kassel 1997.
HÜLBUSCH K. H. 1976: Vegetationssystematik als vorgeleistete Arbeit. In: Cooperative Landschaft (Hg). Schriften der Landschaft. Wien 1994.
HÜLBUSCH K. H. 1981: Zur Ideologie der öffentlichen Grünplanung. In:ANDRITZKY M. SPITZER K. (Hg): Grün in der Stadt. S. 320-330. Reinbek bei Hamburg.
HÜLBUSCH K. H. 1986: Notizbuch der Kasseler Schule. Programmatische Anmerkungen. In: Notizbuch 2 der Kasseler Schule. Hg.: AG Freiraum und Vegetation. Kassel.
HÜLBUSCH K. H. 1990: Variabilität versus Flexibilität. In: Notizbuch 16 der Kasseler Schule. Hg.: AG Freiraum und Vegetation. Kassel.
HÜLBUSCH K. H. 1991a: 'Entwerfen' oder 'Planen'. In: Notizbuch 22 der Kasseler Schule. Hg.: AG Freiraum und Vegetation. Kassel.
HÜLBUSCH K. H. 1996: Die Straße als Freiraum. In: Stadt und Grün 4/96.
HÜLBUSCH K. H. 1999: Alle reden vom Land ... und andere Texte von und mit Karl Heinrich Hülbusch. Notizbuch 53 der Kasseler Schule.
MUCHOW/MUCHOW 1935: Der Lebensraum des Großstadtkindes. Hamburg.
PANOFSKY E. 1957: Zur Verteidigung des Elfenbeinturms. In: Der Rabe 41. Zürich 1994.
PANOFSKY E. 1979: Ikonographie und Ikonologie. In: KAEMMERLING E. (Hg.): Bildende Kunst als Zeichensystem. Köln.
PEIRCE Ch. S. 1991: Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus. Frankfurt a.M.
SCHMITHÜSEN J. 1961: Allgemeine Vegetationsgeographie. Berlin.
TÜXEN R., ELLENBERG H. 1937: Der systematische und ökologische Gruppenwert. In: Mitteilungen d. flor.-soz. Arbeitsgemeinschaft in Niedersachsen 3. Hannover.
TÜXEN Reinhold 1970: Pflanzensoziologie als synthetische Wissenschaft. Miscellaneous papers, No. 5, p. 131-159. Landbouwhogeschool Wageningen



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