Anmerkungen
zu den Neubrandenburger Skizzen (von Helmut Lührs)
Mit den Neubrandenburger landeskundigen
Skizzen veröffentlichen wir in unregelmässiger Folge Beiträge
zur Freiraum- und Landschaftsplanung, die dem Prinzip des `anschauenden
Sehens` verpflichtet sind. Arbeiten von J. Berger, Alain, J. Giono, K.H.
Hülbusch, R. Tüxen, C. Ginzburg stellen ´das Sehen` aus
ganz unterschiedlichen Perspektiven, Schulen und Disziplinen heraus in
den Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Diese Arbeiten bilden einen konzeptionellen
Rahmen, Vor- und Nachgedachtes, Bezugspunkte und Gedankenstützen,
die für die hier veröffentlichten Beiträge maßgeblich
sind. Sehen beschreibt eine Fähigkeit des Geistes, eine Qualität
im Denken. Sehr sorgfältig lernen wir zählen und wie J. Giono
sagt
"in einem weiteren Wortsinn rechnen.
Aber niemand lernt sehen (oder hören). Wenn jemand nicht richtig zählen
kann, sagt man ihm jegliche Übel voraus (die ihn alsbald treffen).
Wenn er dagegen nicht richtig sieht (oder nicht richtig hört), sagt
man ihm nichts voraus, obwohl sehr viel größeres Unglück
sein unmittelbares Los ist. Und zwar insbesondere Langeweile und mit Gewißheit,
was man mit seinem wahren Namen nennen kann und was landläufig ist:
Schwachsinn." (GIONO 1989:13).
Das Sehen in diesem Sinn umschreibt Fertigkeiten,
über die wir eben nicht so ohne weiteres selbstverständlich verfügen
können. Es will gelehrt und gelernt sein. Schon J.J. Rousseau weist
in den Botanischen Lehrbriefen daraufhin:
"... dieses Sehen-Können
ist in unseren Erziehungsmethoden in Vergessenheit geraten. Die Anschauung
ist das Wichtigste. Immer wieder betone ich: Lehrt eure Kinder sich nicht
mit leeren Worten zufrieden zu geben, sondern lehrt sie das erworbene Wissen
selber zu überprüfen!" (ebenda 1979:53).
Die sorgsame Beobachtung der Welt, so wie
sie ist (BERGER / KELLNER), die anschauende Beobachtung, das in einen Zusammenhang
setzende Sehen (BERGER J: ) sind Metaphern; die das Sehen als eine Art
zu denken umreißen; sprich, Dinge nicht (nur) für sich zu betrachten,
sondern in ihren Bedeutungen, Ursachen und Wirkungen zu verstehen. Nach
Weber M. sind damit Konzepte verbunden, die soziologisch (MUCHOW/MUCHOW),
ikonographisch / ikonologisch (PANOWSKY), indizienwissenschaftlich (GINZBURG),
hermeneutisch (HARD), pragmatisch (PEIERCE), planend (HÜLBUSCH I.M.)
bedacht wurden und werden.
Aus der Anschauung lernen
Das Konzept der anschauenden Beobachtung
greift entsprechend auf eine reiche, ausnehmend erfolgreiche wie zugleich
(akademisch) höchst umstrittene Tradition zurück.
"... ich lache über alle
bisher für natürlich ausgeschriene Methoden, und ich nehme es
auf mich zu beweisen, wenn man es verlangt, daß keine, auch nicht
eine Klasse, in jedem Systeme natürlich sei." LINNÈ C.v. 1991:297).
Was hier aufscheint, ist nicht nur der bekannte
Streit zwischen Haller und Linné, es ist ein bis heute fortwährender
Streit um die orthodoxe, schematische, dogmatische Auslegung der Welt gegen
eine verstehende, erzählende, sehende, Sinn erschließende und
sinnliche Beschreibung, Interpretation, Deutung der Wirklichkeit, so wie
sie ist. Weber hat diesen Unterschied in der Gegenüberstellung der
empirischen Wissenschaften (Soziologie) und der dogmatischen Wissenschaften
(Jurisprudenz, Logik, Ethik, Ästhetik) pointiert zum Ausdruck gebracht,
wobei wir natürlich wissen, daß die Empirik vor Dogmatik so
wenig geschützt ist (und schützt) wie die Dogmatik sich aufs
vortrefflichste der Empirik zu bedienen weiß. Das Sehen ist voraussetzungslos
nicht zu haben. Es bedarf der Erfahrung, konkreter, sinnlicher Erfahrung
und es bedarf eines Fundamentes, das immer aus einem System konstruiert
ist, in dem sich diese Erfahrung aufheben, aufbewahren, ein- und zuordnen
läßt (BOURDIEU P.). Ganz gleich wie (wenig) explizit ein solches
System errichtet wird, das Sehen ist darauf existentiell angewiesen, um
systematisch, prüfbar, nachvollziehbar zu einem tragfähigen,
plausiblen Ergebnis (mehr läßt sich in weichen Disziplin ohnehin
nicht erreichen) zu kommen. Der Vegetationskunde stellt dieses System die
Pflanzensoziologie zur Seite (SCHMIDTHÜSEN), der Freiraumplanung die
Typologie der Bau-, Siedlung- und Freiraumstruktur (BÖSE H.), der
Landschaftsplanung die Landnutzung und Landnutzungsgeschichte (HÜLBUSCH
K.H.). Anschauendes Sehen ist nicht ängstlich auf disziplinäre
Grenzen und Grenzziehungen bedacht. So schreibt Goethe über Linné:
"Dieser Tage habe ich wieder Linné
gelesen und bin über diesen ausserordentlichen Mann erschrocken. Ich
habe unendlich viel von ihm gelernt, nur nicht Botanik." (ebenda S. 295)
Linnés Schüler J. Beckmann nutzt
das Vorbild der binären Nomenklatur um eine systematische Ordnung
der Handwerke vorzulegen (ebenda S. 301). Analog wurde die pflanzensoziologische
Methode des (Tabellen)vergleichs nach Braun Blanquet fruchtbar in siedlungskundliche,
geographische, bautypologische Fragestellungen übersetzt.
Ein Beispiel aus der Vegetationskunde
Linné war ein Erzähler, ein
Dichter, einer, den Land und Leute interessieren, was sich von der heutigen
Floristik und in ihrem Gefolge der Pflanzensoziologie nur mehr in Ausnahmefällen
sagen läßt. Dieser Verlust kundiger Anteile in der akademischen
Arbeit wird vermeintlich durch (pseudo)wissenschaftliche Härte kompensiert.
Es gibt einen in seiner Schizophrenie unübertroffenen Aufsatz von
R. Tüxen und H Ellenberg aus dem Jahr 1937 - Der systematische und
der ökologische Gruppenwert - , der diese beiden Seiten der Annäherung
/ Gegenstandsbeschreibung - gleichsam exemplarisch in einer Arbeit - spiegelt.
Da wird einerseits ein ganzes Feuerwerk an Formeln, Berechnungen, mathematischen
Ableitungen zum Besten gegeben, das beeindruckt, aber nichts erklärt,
andererseits finden sich weite Passagen, die jenseits der ganzen Rechnerei
sorgfältig die Überlegung, das Prinzip und die dazugehörigen
Regeln wiedergeben und zugänglich machen. Während Ellenberg weiter
bei der Rechnerei geblieben ist, um u.a. mit seinen Zeigerwertzahlen jede
verständige Betrachtung und Beschreibung der Vegetation zu zerrütten
(was ihm im übrigen nicht nur in der Landespflege viel Ehre und Lob
eingetragen hat), hat Tüxen den anderen, vegetationskundlichen Weg
verfolgt. Auffallend dürftig fällt seine Rezeption in der Landespflege,
Landschaftsökologie / und den verwandten Disziplinen aus. Die Arbeiten
der Kasseler Schule stellen dagegen das Indizienparadigma der Vegetationskunde
explizit in den Mittelpunkt der Landschafts- und Freiraumplanung. Dieser
Meilenstein im Verständnis der professionellen Arbeit wurde von der
Wissenschaftsgemeinde, wie man sich leicht vorstellen kann, mit gemischten
Gefühlen aufgenommen. Während die einen diesen Beitrag am liebsten
tot schweigen würden, beharren die anderen, Praxologen, Methodenpriester
und Wissenschaftsdogmatiker (selbstredend) darauf, die Welt auch weiterhin
mit unangemessenen Mitteln für unangemessene Ziele zu durchpflügen.
Sie überziehen das Land mit ökologischen Risikoanalysen, Biotopwertkartierungen,
Ablaßhändeln im Rahmen von sog. Eingriffs-/ Ausgleichsuntersuchungen
(und vielem mehr) - wogegen sich das Gefeilsche eines orientalischen Marktes
als ein für alle Beteiligten höchst transparentes Unternehmen
ausweist. Panowsky hat gegen diese Art von wissenschaftlicher Praxismimikrie
die Gelassenheit des Elfenbeinturmes hochgehalten und wir halten das für
einen klugen Vorschlag, den Auftrag der Hochschulen ernst zunehmen, indem
sie der eilfertigen Verwurstung und Verwertung ihrer Arbeit widerstehen.
Freilich verfolgen die Neubrandenburger Skizzen keine wissenschaftliche
Ambition - das wäre im Sinne des Elfenbeinturms zu hoch und im Sinne
der wissenschaftlichen Normalpraxis zu kurz gegriffen.
Neubrandenburger Skizzen
Der Charakter einer Skizze ist voreiliger
Natur. Sie will auf etwas hinaus, was ihr noch nicht zu handen ist. So
legt sie das Gewicht ins Prinzip, in die Abbildung des Wesentlichen (sei
dies nun bei einer Zeichnung, bei einem Text oder bei der Notiz eines Gedankens).
Vollständigkeit spielt hier sowenig eine Rolle wie Detailgenauigkeit.
Das erweist sich als Vorteil und üppige Beweislast zugleich, weil
die Aufmerksamkeit nicht dem Material an sich, sondern den sinnleitenden
Gedanken/Überlegungen dazu verpflichtet ist. Die Skizze enthält
den Versuch, die mitgebrachte Erfahrung, gleichsam das ad hoc verfügbare
Wissen auf dem Punkt zubringen, um von diesem Punkt aus, der Neugier, dem
Zweifel, der Intuition einen relativ gesicherten Platz für die Arbeit
zu gewähren. So ist die Skizze darauf angelegt, Grenzen zu überschreiten,
in dem sie uns hilft, den Blick auf das Unbekannte im bekannten Wissen
zu schärfen, Vor- und Nachgedachtes für neue Einsichten aufzubewahren
und dem Denken eine Richtung zu weisen, damit es sachlich und das heißt
immer den Dingen gemäß ausfallen kann.
Im wesentlichen veröffentlichen wir
mit den Neubrandenburger Skizzen studentische Beiträge, die im Lehr-/Lernzusammenhang
der Freiraumplanung/ Landschaftsplanung an der Fachhochschule Neubrandenburg
entstanden sind. In einem vergleichbaren Zusammenhang steht die Schriftenreihe
der Cooperative Landschaft an der BOKU in Wien und die Tradition der Notizbücher
der Kasseler Schule, die der studentischen Arbeit, dem forschenden Lehren
und Lernen einen Ort, ein Stück Heimat gewähren, gegen die Verschwiegenheit
der gängigen Ausbildungsroutinen (nicht öffentliche Prüfungen,
in Tresoren verschlossene Diplomarbeiten, nur Insidern zugängliche
Projekt- und Studienarbeiten), für eine offene, offensive und öffentliche
Debatte, die der Privatisierung des Wissens widersteht.
Literatur
GIONO 1989: Die Terrassen der Insel Elba.
Frankfurt am Main.
LINNE Carl von 1991: Lappländische
Reise und andere Schriften. Leipzig.
ROUSSEAU Jean-Jacques 1979: Botanische
Lehrbriefe. Frankfurt am Main.
ALAIN 1985: Spielregeln der Kunst. Frankfurt
am Main.
BERGER J. 1990: Das Sichtbare und Verborgene.
München, Wien.
BERGER J. 1991: Velazquez Äsop. Erzählungen
zur spanischen Malerei. Frankfurt a. Main.
BERGER P. L., KELLNER H. 1984: Für
eine neue Soziologie. Ein Essay über Methode und Profession. Frankfurt
a. M.
BÖSE H. 1981: Die Aneignung von städtischen
Freiräumen. Arbeitsbericht des FB 13 Stadtplanung und Landschaftsplanung.
GhK. Heft 22. Kassel.
BÖSE-VETTER H. 1989: Hof und Haus.
Zum Beispiel Worpswede. In: Notizbuch 25 der Kasseler Schule. Hg.: AG Freiraum
und Vegetation. Kassel 1991.
BOURDIEU P. 1974: Zur Soziologie der symbolischen
Formen. Frankfurt am Main.
GINZBURG C. 1988: Spurensicherungen, über
verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis. München.
HARD G. 1995: Spuren und Spurenleser.
Zur Theorie und Ästhetik des Spurenlesens in der Vegetation und anderswo.
Osnabrücker Studien zur Geographie Bd. 16. Osnabrück.
HÜLBUSCH I. M. 1978: Innenhaus und
Außenhaus. Umbauter und sozialer Raum. Schriftenreihe der Organisationseinheit
Architektur - Stadtplanung - Landschaftsplanung. Gh Kassel.
HÜLBUSCH I. M. 1990: Die Angst vor
dem Garten der Anderen. In: Notizbuch 47 der Kasseler Schule. Hg.: AG Freiraum
und Vegetation. Kassel 1997.
HÜLBUSCH K. H. 1976: Vegetationssystematik
als vorgeleistete Arbeit. In: Cooperative Landschaft (Hg). Schriften der
Landschaft. Wien 1994.
HÜLBUSCH K. H. 1981: Zur Ideologie
der öffentlichen Grünplanung. In:ANDRITZKY M. SPITZER K. (Hg):
Grün in der Stadt. S. 320-330. Reinbek bei Hamburg.
HÜLBUSCH K. H. 1986: Notizbuch der
Kasseler Schule. Programmatische Anmerkungen. In: Notizbuch 2 der Kasseler
Schule. Hg.: AG Freiraum und Vegetation. Kassel.
HÜLBUSCH K. H. 1990: Variabilität
versus Flexibilität. In: Notizbuch 16 der Kasseler Schule. Hg.: AG
Freiraum und Vegetation. Kassel.
HÜLBUSCH K. H. 1991a: 'Entwerfen'
oder 'Planen'. In: Notizbuch 22 der Kasseler Schule. Hg.: AG Freiraum und
Vegetation. Kassel.
HÜLBUSCH K. H. 1996: Die Straße
als Freiraum. In: Stadt und Grün 4/96.
HÜLBUSCH K. H. 1999: Alle reden vom
Land ... und andere Texte von und mit Karl Heinrich Hülbusch. Notizbuch
53 der Kasseler Schule.
MUCHOW/MUCHOW 1935: Der Lebensraum des
Großstadtkindes. Hamburg.
PANOFSKY E. 1957: Zur Verteidigung des
Elfenbeinturms. In: Der Rabe 41. Zürich 1994.
PANOFSKY E. 1979: Ikonographie und Ikonologie.
In: KAEMMERLING E. (Hg.): Bildende Kunst als Zeichensystem. Köln.
PEIRCE Ch. S. 1991: Schriften zum Pragmatismus
und Pragmatizismus. Frankfurt a.M.
SCHMITHÜSEN J. 1961: Allgemeine Vegetationsgeographie.
Berlin.
TÜXEN R., ELLENBERG H. 1937: Der
systematische und ökologische Gruppenwert. In: Mitteilungen d. flor.-soz.
Arbeitsgemeinschaft in Niedersachsen 3. Hannover.
TÜXEN Reinhold 1970: Pflanzensoziologie
als synthetische Wissenschaft. Miscellaneous papers, No. 5, p. 131-159.
Landbouwhogeschool Wageningen |